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Partizipatives Design (Taz-Artikel vom 19.07.2006)


Ida

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Guten Morgen,

heute wird in der Taz (Berlin) ein sehr interessantes Nähprojekt vorgestellt:

 

 

 

"Der Stoff für eine neue Karriere

Beim Projekt "Tekstil" lernen Kreuzbergerinnen professionell nähen. Sie entwerfen Röcke, Hosen und Taschen für eine eigene Kiezmarke. Sie soll die unterschiedlichen Einflüsse im Bezirk verkörpern

VON NINA APIN

 

Vor dem Modeatelier "Lokalkolorit" an der Schlesischen Straße sitzen drei Frauen in der prallen Sonne um einen Nähtisch. Eine arbeitet an der Nähmaschine, die andere begutachtet kritisch die entstehende Saumnaht, die dritte bückt sich und wühlt in einem Haufen Stoffreste, der sich auf dem Gehsteig türmt.

 

"Das wird das Innenfutter für meine Tasche", ruft Fabiana, zieht ein Stück Stoff in sattem Dunkelblau hervor und verschwindet damit im Laden. "Lass es dir lieber noch mal erklären", ruft ihr Katharina Rohde nach, die sich über die leicht schiefe Naht von Claudia beugt.

 

Die Nähidylle auf der Straße ist eine Amateurveranstaltung: Schneiderin oder Modedesignerin ist keine der Frauen vor dem "Lokalkolorit". Fabiana aus Brasilien ist Künstlerin, Claudia ist Goldschmiedin und Katharina Rohde, die Initiatorin des Textilprojekts, Architektin. "Wir haben uns dem Modeatelier angeschlossen, um erst einmal die Grundbegriffe zu lernen", sagt die junge Frau mit den dunklen Zöpfen.

 

Ein- bis zweimal im Monat veranstaltet sie vor und im Laden themenbezogene Näh-Workshops für Kreuzbergerinnen - kostenlos und ohne Anmeldung. Mit Hilfe der Modemacherinnen Anna und Katsu von "Lokalkolorit" sollen die Teilnehmerinnen Näh- und Schneiderfertigkeiten erlernen und nach und nach eine eigene Kollektion aufbauen. Die Taschen, die Fabiana und fünf weitere Frauen an diesem Wochenende nähen, sind der Anfang. Bis Jahresende sollen Röcke, Hosen, Oberteile und Jacken dazukommen. Für die Produktion nutzen die Teilnehmerinnen alle zwei Wochen Nähmaschinen und Arbeitsplätze im Atelier, die Stoffe sind Abfälle aus Textilfirmen.

 

"Tekstil" hat Katharina Rohde ihr Nähprojekt genannt, das halb auf der Straße, halb im Laden stattfindet. Die türkische Schreibweise deutet an, worum es der jungen Architektin geht. "Ein lokales Modelabel, das die kreativen Ressourcen von Migrantinnen und jungen Kreuzberger Modemacherinnen bündelt", soll "Tekstil" werden. In Kreuzberg, fiel Rohde auf, existieren verschiedene Textilwelten nebeneinander. Türkische Schneidereien und Brautmodenboutiquen, daneben Labels deutscher Modemacherinnen und Selbstgenähtes von Afrikanerinnen für den Wochenmarkt. "Tekstil soll die im Kiez vorhandenen regionalen Stile und Fertigkeiten zusammenbringen", sagt Rohde. Eine echte Multikulti-Modemarke von und für Kreuzbergerinnen soll entstehen, die langfristig auch Arbeitsplätze für Frauen schaffen soll. "Partizipatives Design" nennt Rohde den Ansatz, für den sie eine Förderung der Projektagentur Zukunftsfähiges Berlin erhalten hat. Bald soll auch an anderen Orten, unter den Augen der Nachbarn, genäht werden, etwa auf dem Mariannenplatz oder auf Straßenfesten.

 

Die Idee zu "Tekstil" kam der 29-jährigen Katharina Rohde während der Arbeit an ihrem Masterprojekt im venezolanischen Caracas. Rohde erforschte Möglichkeiten kreativer Umnutzung sozialer Wohnbauten und verfiel auf die Idee, auf ungenutzten Dachflächen der Betonblocks Textilproduktionsstätten für arbeitslose Frauen aus dem Viertel zu errichten. Die Textilprodukte sollten auf einem Marktplatz verkauft und als fair produziertes Lokalprodukt eine Alternative zu den in ausbeuterischen Sweatshops hergestellten Billigtextilien darstellen.

 

Nach dem Studium forschte Rohde weiter an der Schnittstelle zwischen lokalen Identitäten und Modeproduktion. Sie stieß auf Projekte wie die Coopa Roca, die sich Anfang der 80er-Jahre in einer Favela von Rio de Janeiro gründete. Dabei schloss sich eine Gruppe von Frauen zu einer Produktionsgemeinschaft zusammen und schneiderte aus Textilabfällen Kleider. Die Kooperative hat mittlerweile 150 Mitglieder und arbeitet mit lokalen Modemachern zusammen.

 

Bis das brasilianische Vorbild erreicht ist, wird es an der Schlesischen Straße noch etwas dauern. Die frisch gebackene Nähgruppe kämpft noch mit Reißverschlüssen, Nähten und der Logik von Innentaschen.

 

Claudia wirkt inzwischen ein wenig verzweifelt. Die Realisierung ihrer ambitionierten Tasche mit integriertem Zeichenrollenfach gestaltet sich kompliziert. Fabiana dagegen hat den dunkelblauen Stoff mit grellgelben Kontrastnähten versehen und ist zufrieden. "Für meine erste Näharbeit mit der Maschine nicht schlecht." Die Türkin Aifa, die sich selbst das Häkeln beigebracht hat, freut sich schon auf den nächsten Workshop, in dem Röcke genäht werden sollen. "Aifa könnte Bordüren häkeln und Fabiana Stoffe bemalen", schlägt Katharina vor. Die Modemacherinnen Katsu und Anna schauen ob dieser Ambitionen etwas skeptisch - noch müssen sie den Teilnehmerinnen bei den einfachsten Grundschritten assistieren.

 

Im Hinterzimmer sitzt Zarko, der einzige Mann im Projekt, an einer surrenden Nähmaschine. Er kam zufällig vorbei und näht sich jetzt eine Gürteltasche für den bevorstehenden Urlaub. Mit komplizierten Entwürfen gibt sich der Serbe nicht ab. Ein Reißverschluss, ein Hüftband - und fertig ist die Tasche. "Ein super Erfolgserlebnis", grinst er und geht mit seiner fertigen Tasche nach Hause. "Typisch Mann: Kommt, näht, geht wieder", knurrt Claudia, die immer noch weit von einem fertigen Produkt entfernt ist.

 

Für Schnellnäher wie Zarko sind die "Tekstil"-Workshops eigentlich nicht gedacht. Das Projekt richtet sich primär an Frauen, die an einer längerfristigen Mitarbeit interessiert sind. Statt für den Eigengebrauch sollen sie schon bald für den Verkauf produzieren. Im Dezember soll die "Tekstil"-Kollektion fertig sein. Katharina Rohde sucht schon nach geeigneten Präsentationsräumen. Einen normalen Laden findet sie als Architektin mit Faible für den öffentlichen Raum etwas langweilig. Ungenutzte Kioske wären gut, meint sie. "Superblocks" mit leer stehenden Dachterrassen gibt es nicht. Darin unterscheidet sich Kreuzberg 36 dann doch von Caracas.

 

 

Der nächste "Tekstil"-Workshop findet vom 28. bis 30. Juli im "Lokalkolorit", Schlesische Straße 32, statt. Informationen unter http://www.tekstilprojekt.net/

 

taz Berlin lokal Nr. 8025 vom 19.7.2006, Seite 23, 201 TAZ-Bericht NINA APIN"

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Deutschland ist nicht Caracas oder Brasilien.

 

Sobald die beteiligten Frauen für Ihre Arbeit Stundenlohn verlangen und die Zuschüsse ausgelaufen sind, wird sich das Ganze zerschlagen.

 

Entweder werden die produzierten Teile unbezahlbar teuer, oder die Frauen würden weniger als den Sozialhilfesatz, sprich Hartz IV verdienen. Sie werden doch wohl die gleichen Sozialabgaben und Steuern zahlen müssen, wie andere Firmen in Deutschland auch??

 

An der Qualität der auf diese Art hergestellten Nähobjekte melde ich auch einige Zweifel an.

 

Als soziales Projekt zur Weiterbildung und Bechäftigungstherapie ist es aber zu begrüßen.

 

Ursel

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